Anne Freytag entdeckte ich zufällig auf #bookstagram. Jemand empfahl ihren Roman Lügen, die wir uns erzählen. Den lese ich gerade und kann ihn kaum aus der Hand legen. Heute, am 24. April 2025, erscheint ihr neues Werk Blaues Wunder. Für unseren Bücherpodcast Die Bücherstaplerinnen haben Antje Tomfohrde und ich den Roman gemeinsam gelesen und Anne Freytag für ein Interview eingeladen. Das erscheint am 9. Juni. Heute berichte ich von meinem Leseerlebnis mit Blaues Wunder.
Blaues Wunder – Ein Kammerspiel auf einer Luxusjacht
*Blaues Wunder habe ich als Leseexemplar von der Kommunikationsagentur ehrlich & anders GmbH
erhalten. Meine Rezension gibt meine Meinung wider.
Die Geschichte spielt auf engstem Raum: eine Luxusjacht vor den Philippinen und von Anfang an spürt man, dass etwas nicht stimmt. Die Akteure des Kammerspiels: Ferdinand und Nora, Kilian und Franziska, Walter und Rachel – und David, der Sohn von Walter und Rachel Bronstein. Die Besitzer der Jacht.
Der schöne Schein trügt. Außen wirkt alles perfekt, innen herrscht emotionaler Zerfall. Der Elefant im Raum ist spürbar und Anne Freytag versteht es, ihn Seite für Seite in Scheiben zu zerlegen und mir die Geschichte Häppchen für Häppchen zu kredenzen.
Drei Frauenstimmen – Die Erzählperspektiven
Besonders aufgefallen ist mir die Erzählweise aus der Perspektive der drei Frauen: Franziska, Nora und Rachel. Dadurch spüre ich den Kontrast zwischen äußerer Perfektion und innerem Aufruhr besonders. Anne Freytag entlarvt damit die gesellschaftliche Erwartungshaltung an diese Frauen – sie sind auf der Luxusjacht Predator, zu deutsch Raubtier, eigentlich nur schmückendes Beiwerk ihrer einflussreichen Männer. Auch dieses luxuriöse Setting hat die Autorin bewusst gewählt.
Während die eigentliche Handlung sich auf einer Ebene abspielt, zu der die Frauen keinen Zugang haben – und ich als Leserin auch nicht, weil sie unter den drei Männern verhandelt werden und diese Treffen im Roman nicht beobachtet und beschreiben werden – sind es gerade die Gedanken und inneren Konflikte der Frauen, die der Geschichte ihre emotionale Tiefe verleihen. Diese chamäleonartige Anpassungsfähigkeit, die besonders von Frauen erwartet wird, wird durch die Ich-Perspektive sehr deutlich. Ich lese, was sie denken. Sie lächeln und funktionieren.
„Als Ferdinand von einem Sommer auf dem Meer sprach, hatte ich etwas anderes im Sinn. Weniger weit weg, weniger beruflich. In Nachhinein stellt sich die Frage, warum ich so dachte. Immerhin ist Ferdinand seit jeher mehr mit seiner Arbeitet verheiratet als mit mir.“ – Nora.
Der Wechsel zwischen den drei Stimmen schafft einen Lesefluss, der mich förmlich durch die Seiten und in die Geschichte hineingezogen hat. Selbst als jemand, der normalerweise langsam liest, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Die Spannung zwischen dem, was die Frauen nach außen zeigen – und ihre unterschiedliche Wahrnehmung – und was in ihnen vorgeht, ist unglaublich fesselnd.
„Der Vorteil daran, unsichtbar zu sein, ist, dass man mit seinem Drink auf einer Luftmatratze sitzen und alles beobachten kann, ohne das es einer mitkriegt: die Männer in ihren Kajaks, Rachel, die in der Hängematte schaukelnd liest, den missratenen Sohn des Chefs, der der Ehefrau eines der leitenden Angestellten den Rücken eincremt. Hautkrebsprävention oder Vorspiel, wer kann das schon sagen?“ – Franziska.
Meine Lieblingsfigur Rachel bekommt erst spät eine Stimme, obwohl sie nicht nur als Ehefrau des Jachtbesitzers Walter eine entscheidende Rolle spielt.
„Ich hatte keine Zeit mir Gedanken zu machen. Doch der Einfall kam mir erst vor acht Wochen. Seitdem trage ich ihn mit mir herum wie einen Tumor, bei dem man noch nicht weiß, ob er gut- oder bösartig ist. Ich habe früh gelernt, Geheimnisse für mich zu behalten. Die meiner Mutter – Geld beiseiteschaffen, ein Liebhaber in der Nachbarschaft -, die meines Vaters – Steuerhinterziehung im großen Stil, ein Hang zu handfesten Auseinandersetzungen -, die meines Bruders – Spiel- und Sexsucht -, und natürlich meine.“
Ein Thema mit gesellschaftlicher Relevanz
Unsere 30. Podcast-Folge veröffentlichen wir am 9. Juni 2025. Darin sprechen wir mit Anne Freytag über das Thema hinter der Handlung ihres Romans Blaues Wunder: die finanzielle und soziale Abhängigkeit vieler Frauen von ihren Männern. Freytag nennt es „eine moderne Form der Leibeigenschaft“. Sie beschreibt, wie Eheverträge und fehlende berufliche Perspektiven Frauen in eine Position drängen, in der sie nur profitieren, solange sie das Spiel mitspielen. „Sobald sie sich wehren, sind sie geliefert“, sagt Freytag im Gespräch. Dass ähnliche Machtstrukturen in vielen Beziehungen existieren, möchte die Autorin mit ihrer Erzählung sichtbar machen.
Literatur, die unterhält
Blaues Wunder ist eine meisterhaft konstruierte Geschichte, die vor der glitzernden Kulisse der Philippinen die Abgründe von ehelichen Machtstrukturen offenlegt. Anne Freytag bedient sich eines Perspektivwechsels zwischen den drei Frauen, die scheinbar nur als dekoratives Beiwerk ihrer einflussreichen Männer fungieren. Doch im Roman tragen sie die Geschichte.
Der Roman besticht durch seine subtile Spannungsführung und die kluge Analyse der Machtgefälle in sogenannten „goldenen Käfigen“. Anne Freytag zeigt präzise, wie hoch der Preis für ein Leben in materieller Sicherheit sein kann, wenn er mit absoluter Anpassung und dem Verlust der Selbstbestimmung bezahlt wird.
Blaues Wunder ist weder plakativ noch moralisierend, sondern lässt die Leser:innen durch die wechselnden Blickwinkel selbst erfahren, wie kompliziert die Verstrickungen zwischen Macht, Abhängigkeit und Selbsttäuschung sein können.
Mich hat dieser packende und literarisch anspruchsvolle Roman, sehr gut unterhalten und gleichzeitig zum Nachdenken über gesellschaftliche Rollenbilder angeregt. Klare Leseempfehlung.
Details zum Buch: Blaues Wunder von Anne Freytag

Details zum Buch: Blaues Wunder von Anne Freytag
Erscheinungsdatum: 24.04.2025
256 Seiten
Verlag: Kampa Verlag
ISBN 978 3 311 70562 8
Auf einer luxuriösen Superjacht in den Philippinen treffen drei Paare aufeinander, scheinbar für einen entspannten Urlaub. Doch hinter den strahlenden Fassaden verbirgt sich mehr als nur Sonne und Meer. Anne Freytag enthüllt in ihrem neuen Roman „Blaues Wunder“ die verborgenen Intrigen und Geheimnisse, die die Gäste auf dieser Reise umgeben. Ein Spiel aus Erwartungen, Enttäuschungen und Begierden, bei dem niemand die Regie zu führen scheint.
Anne Freytag zu Gast im Die Bücherstaplerinnen Podcast
Als Anne Freytag der Podcastaufnahme für den Die Bücherstaplerinnen Podcast zustimmte, habe ich mich sehr gefreut, denn sie war meine Wunschgästin für unseren Podcast. Die Folge erscheint am 9. Juni 2025. Am Besten abonnierst du unseren Podcast und gleich auch noch unseren Newsletter, um keine Folge zu verpassen. Hier gibt es eine kleine Zusammenfassung was dich im Podcast erwartet.
Anne Freytag
Anne Freytag hat International Management studiert, ist pünktlich zur Wirtschaftskrise fertig geworden, hat über einhundert Bewerbungen geschrieben, keinen Job gefunden, eine Weile in einer Boutique gearbeitet, sich arbeitslos gemeldet, zur Grafikdesignerin umgeschult, sich als Quereinsteigerin mit mieser Bezahlung in diversen Agenturen anstellen lassen und ist dann endlich ihrem Traum nachgegangen:
Seit 2013 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Für ihre Jugendbücher wurde sie mehrfach für Literaturpreise nominiert (u.a. zwei Mal in Folge für den Deutschen Jugendliteraturpreis) und damit ausgezeichnet (u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur).
Anne Freytag lebt und arbeitet in München. Lügen, die wir uns erzählen ist ihr literarisches Debüt.

Foto: © Studio Tasca
Der Schreibprozess – Vom Entwurf zum fertigen Roman
Ein besonderes Highlight unserer Podcastfolge mit Anne Freytag sind die Einblicke, die sie in ihren Schreibprozess gibt. Sie plant ihre Geschichten nicht im Voraus: „Ich bin nicht der Typ, der konzipiert, ich kann das auch nicht.“ Stattdessen entwickelt sie die Handlung während des Schreibens.
„Bei mir ist es eher so, ich werde zu den Figuren. Ich versuche alles, um mich so in sie hineinzuversetzen, dass ich ihre Art zu denken verstehe“, erklärt sie. „Und dann schreibe ich in meinen Worten ihre Geschichte auf. Das heißt, ich gebe die Geschichte nicht vor, sondern es ist die Geschichte der Figuren und es sind meine Worte.“
Besonders faszinierend ist Freytags Beschreibung, wie sie Blaues Wunder wie im Wahn schrieb: „Ich habe einen Großteil dieses Buches in acht Wochen geschrieben… Das wollte raus, dieses Buch.“
Sie schreibt ihre Romane chronologisch, um die Geschichte genauso zu erleben, wie es später ihre Leser:innen tun.
„Die Geschichte muss sich von mir so entfalten wie für jemanden, der sie liest.“
Die Kunst des Beschreibens
Im Gespräch sprechen wir auch über die Kunst des Beschreibens. Freytag erläutert, dass sie Wert darauf legt, nur das zu beschreiben, was für die Figuren in ihrer Situation natürlich wäre: „Ich gehe nicht durch meine Wohnung und beschreibe alles. Das ist für mich ja alltäglich.“ Sie findet es unlogisch, wenn Figuren in Romanen ihre alltägliche Umgebung detailliert beschreiben.
Diese Überlegungen flossen in die Wahl ihrer Erzählperspektiven ein: Die Gäste auf der Jacht können das luxuriöse Setting besser beschreiben als die Besitzerin Rachel, für die es Alltag ist.
Über Genre-Grenzen hinaus – Literatur oder Unterhaltung?
Anne Freytag spricht offen über ihre Frustration mit der strengen Kategorisierung von Literatur. Als Kunstschaffende, die sowohl Jugendbücher als auch Spannungsromane und literarische Werke geschrieben hat, wurde sie oft gefragt, warum sie sich nicht für ein Genre entscheidet. Auch ich habe ihr im Gespräch diese Frage gestellt.
„Ich finde es wahnsinnig schade, weil eigentlich Kreativität und künstlerisches Dasein genau das Gegenteil dessen ist,“ erklärt sie. „Ich werde das nie verstehen. Es ist wie wenn man zu einem Kind sagt, du hast jetzt ein Spielzeug und mit dem musst du jetzt für immer spielen.“
Freytag wehrt sich gegen die künstliche Trennung zwischen Literatur und Unterhaltung:
„Ich versuche seit jeher, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, Geschichten zu schreiben, wo man sich nicht fragt, ist das Literatur oder ist das Unterhaltung? Ich finde diese Frage wahnsinnig anstrengend, weil ich der Meinung bin, das klingt so, als wäre Literatur per se nicht unterhaltend.“
Ihre Philosophie fasst sie prägnant zusammen:
„Man kann jemanden unterhalten und da kann sehr wohl zwischen den Zeilen sehr, sehr viel stehen.“
Für wen schreibt Anne Freytag?
Natürlich interessiert uns auch, welche Leser:innen Anne Freytag mit ihren Büchern erreichen will: „Ich schreibe meine Geschichten für andere Menschen. Ich schreibe aber die Geschichten, die ich gerne lesen würde oder gerne gelesen hätte in meiner Jugend oder in meinen Zwanzigern oder eben auch jetzt.“
Sie glaubt nicht an eine altersbezogene Zielgruppe, sondern vielmehr an eine Verbindung über gemeinsame emotionale Erfahrungen: „Eine Zielgruppe hat weniger mit dem Alter zu tun als mit dem Alter der Seele… Ich glaube, wir sind alle – ich habe jetzt sicher nicht jede Erfahrung gesammelt, über die ich schreibe, aber ich weiß, wie sich tiefe Trauer anfühlt, ich weiß, wie sich große Liebe anfühlt, ich weiß, wie sich Angst anfühlt. Ich kenne diese profunden Gefühle und ich glaube, die kann man übersetzen in die Geschichten von anderen Menschen.“
Über die Verfilmung von Büchern
Auf die Frage, ob sie sich eine Verfilmung von Blaues Wunder vorstellen könne, antwortet Freytag: „Ich glaube, es gibt den Schriftsteller, die Schriftstellerin nicht, die nicht gerne hätte, dass ihr Buch verfilmt wird.“
Ihr Wunsch wäre allerdings ein internationales Projekt: „Wenn man sich seine Wünsche backen könnte, dann wäre es für mich ein internationales Projekt… Und dann wäre es eine Miniserie von vier bis acht Folgen, wo man in die Tiefe gehen und viele Details aus den Büchern mit reinnehmen kann.“
Bald im Die Bücherstaplerinnen Podcast
Was passiert, wenn eine Autorin nicht plant, sondern ihre Figuren die Geschichte selbst erzählen lässt? Anne Freytag gibt im Gespräch mit Antje und mir Einblicke in ihre Schreibwelt. Sie rebelliert gegen Genregrenzen, taucht vollständig in ihre Charaktere ein und erklärt, warum sie mitten im Kapitel aufhört zu schreiben. Ein inspirierendes Gespräch über kreative Freiheit und die Kunst, Unterhaltung mit literarischer Tiefe zu verbinden.
Bald überall dort wo es Podcasts gibt! Abonniere uns auf Spotify oder Apple Podcast oder dort wo du Podcasts hörst und hol dir unseren Newsletter ins Postfach!
Mehr davon? Abonniere meinen Newsletter, das Text & Podcast Magazin, und erhalte alle 4 Wochen eine Mail mit neuen Artikeln.
Im Text & Podcast Newsletter erhältst du regelmäßig spannende Trends, Diskussionen und (Geheim-)Tipps aus der Podcastszene – egal ob ausführlich recherchiert, fundiert eingeordnet oder kritisch kommentiert, aber ganz sicher auf den Punkt gebracht. Ich höre, lese und analysiere für dich, damit du den Überblick behältst. 🎧 📖
Schreibe einen Kommentar